Die
türkischen Medien und die
öffentliche Sicherheit in Europa
Ozan
Ceyhun - MdEP (SPD)
Vorwort
des Herausgebers
Sehr
verehrte Leserinnen,
sehr
verehrte Leser,
wer
freut sich nicht im Urlaub oder bei einem beruflichen Kurzaufenthalt
im Ausland an einem Kiosk eine Zeitung oder Zeitschrift aus der
Heimat zu entdecken. Obwohl man in der Ferne weilt, und die Welt
mit anderen Augen sehen kann, bekommt man in der Muttersprache Informationen
über Entwicklungen und Ereignisse zu Hause.
Bei einem längeren Aufenthalt im Ausland oder einer
dauerhaften
Verlegung des Wohnsitzes in die Fremde
sind die
Medien aus der alten Heimat jedoch nur von
begrenztem
Nutzen. Ihnen fehlt der Blick auf die neue
Heimat und
das Insiderwissen über das, was vor Ort läuft.
Wer seinen
Wissensdurst nur mit den Medien der alten
Heimat stillt,
wird in der Fremde meist ein Fremder
bleiben.
Die
Balearenausgabe der BILD erhöht wohl kaum die Integrationsfähigkeit
und das Verständnis der deutschen Mallorkiner für die ,,Ureinwohner”,
ihre Sitten und Bräuche. Ebenso wenig kann dies eine aus national-türkischer
Sicht erstellte ,,Hürriyet”
bei den in Europa lebenden türkischstämmigen Migranten für
die gesellschaftlichen und politischen Fragen in den europäischen
Staaten leisten.
So
wichtig Medien aus dem Herkunftsland für die Aufrechterhaltung der
emotionalen Bindung an die alte Heimat sind, so sehr können sie
bei der Integration und objektiven Information über das Land in
dem man lebt zum Hindernis werden.
Das
heißt nicht, daß türkischsprachige Medien in Europa keine Daseinsberechtigung
haben sollten — im Gegenteil. Jedoch bedarf es eines aufgeklärten
Journalismus, der beiden Weltsichten”
verpflichtet sein sollte. Und es Bedarf einer Wahrnehmung aller
Medien — egal welcher Sprache — durch die Gesellschaft des Landes
in dem sie erscheinen.
Zur
Förderung dieser Entwicklung soll diese Broschüre einen Beitrag
leisten. Ich hoffe Sie haben viel Vergnügen beim Lesen.
Ozan Ceyhun
Mitglied des Europäischen Parlaments
Cem Özdemir
Eine
Stellungnahme aus Bonn
Bunt, reichlich gegliedert und mit Schlagzeilen in riesigen Buchstaben
prägen türkische Zeitungen mittlerweile die deutsche Presselandschaft.
Nicht weniger als ein Dutzend türkische Privatsender, die über Parabol-Antennen
empfangen werden, strahlen neben dem Staatssender TRT-İNT,
der im Kabelnetz nach wie vor über ein ,,türkisches
Monopol” verfügt, über die Bildschirme der in Deutschland lebenden
Migranten ihre fast ausschließlich in der Türkei produzierten Sendungen
aus.
Diesen regelrechten Boom der türkischen Medien könnte man, als das legitime
Verlangen nach sprachlich und inhaltlich adäquaten Medienangeboten
der Migranten, in einer pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft
begrüßen, wenn die zunehmenden Desintegrationsprozesse in der Gruppe
der Migranten aus der Türkei vor dem Hintergrund dieses beispiellosen
Booms der türkischen Medien den Beobachtern nicht die enge Wechselwirkung
zwischen diesen beiden Entwicklungen deutlich vor Augen führen würde.
Die — vermeintliche — Verteidigung der türkischen Ehre ist ein zentrales
Anliegen so mancher der hier käuflichen türkischsprachigen Boulevardzeitungen
und hat offensichtlich den Vorrang vor seriöser Berichterstattung.
Das WeItbild dieser Presse
ist schlicht Freund-Feind,
gut-böse, schwarz-weiß. Da wird aus dem berechtigten und notwendigen
Protest gegen Ausländerfeindlichkeit und rassistische Übergriffe
schon mal der Vorwurf des Völkermordes an den Türken. Kritik an
der türkischen Kurdenpolitik kommt einer Intrige gleich: Vom ,,Spiegel”
zur ,,taz”, von Blüm zu Bednarz sollte die Türkeifeindliche Verschwörung
reichen, die der Chefkolumnist der ,,Hürriyet” ausgemacht hatte und die selbst das Produktionsteam der
Lindenstraße mit einschloss. Nun könnte man dieses abstruse Weltbild
als Ausdruck der geistigen Verwirrung einzelner Journalisten abtun
— wenn nicht, ja wenn nicht der fast monopolhafte Einfluß auf die
Meinungsbildung der türkischen Migranten hier wäre. Dies gibt Anlaß
zur Sorge:
Das
weitgehende Fehlen einer seriösen und differenzierten Berichterstattung
über das Geschehen in Deutschland, der Blick auf hiesige Ereignisse
und Probleme durch die ethnische Brille der Türkei-Lobbyisten wird
zur einer lntegrationsbarriere für die Türken in Deutschland, verhindert
Auseinandersetzung und Kommunikation. Je weniger deutsche Medien
die Probleme der hier lebenden Minderheiten thematisieren, umso
mehr werden diese auf das muttersprachliche Angebot verwiesen.
Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr und andere muttersprachliche
Medien.
Bei
allem Verständnis für die Ursachen der heutigen Situation wird den
Beobachtern türkischer Medien schlicht mulmig bei der Vorstellung,
wohin diese »Isolierung” führen
kann. Die Frage, wie eine Mehrheitsgesellschaft und die größte Migrantengruppe,
die in ihr lebt ohne einen gegenseitigen lnformations- und Meinungsaustausch
eine gemeinsame, möglichst konfliktfreie, ja friedliche Zukunft
aufbauen wollen, muß unbeantwortet bleiben, wenn der Status quo
beibehalten wird. müßte
hinzugefügt werden, daß sich die ,,Heimat”
und rückwartsgewandte Tendenz verstärken wird, wenn nichts unternommen
wird.
In
letzter Zeit ist aber auch Positives zu vermelden. In einigen überregionalen
und wichtigen Zeitungen, wie der Frankfurter Rundschau, dem Tagesspiegel,
der Berliner Zeitung oder der taz schreiben junge türkischstämmige
JournalistInnen und gewähren somit der mehrheitlich deutschen Leserschaft
einen Einblick in die türkische Community. Pionierarbeit hat sicher
,,die taz” mit ,,Intertaz” geleistet.
Diese
Broschüre, zusammengestellt von meinem Kollegen und Freund Ozan
Ceyhun, ist ein erster keiner Schritt in die richtige Richtung und
ein wichtiger Beitrag zur Klärung der angesprochenen Probleme.
Cem Özdemir
Mitglied des Deutschen Bundestages
Die Rolle der türkischen Medien
Zunächst die gute Nachricht: in Deutschland lebende Türken können Ende
der 90er Jahre unter einem vielfältigen muttersprachlichen Medienangebot
auswählen. Das ist erfreulich. Denn in einer offenen, pluralistischen
und multikulturellen Gesellschaft sollte es zur Selbstverständlichkeit
gehören, daß neben französisch- und englischsprachigen auch Zeitungen
in russisch, serbo-kroatisch, arabisch, polnisch oder türkisch angeboten
werden. Schließlich st es Privatangelegenheit eines jeden Einzelnen,
in welcher Sprache er sich über das Geschehen in der naheren und
weiteren Umgebung informieren will.
Nun
zur schlechteren Nachricht:
Nur in wenigen Ausnahmefällen sind die türkischsprachigen
Medien, die in Deutschland konsumiert werden, einem aufgeklarten
Journalismus verpflichtet. Seit Beginn der 90er Jahre nimmt die
Aufsplitterung der türkischen Community nach religiöser, ethnischer
und nach politischer Einsteilung zu. Die Medien spielen dabei eine
wesentliche Rolle. Das Resultat: Die
Mehrheit der türkischsprachigen Medien trägt wenig zur interkulturellen
Verständigung bei. Spätestens seit den Brandanschlägen in Mölln
(1992) und Solingen (1993)
überwiegt die skeptische Berichterstattung über Deutschland. Skandalberichte
über türkenfeindliches Verhalten deutscher Politiker, ob nun berechtigt
oder nicht, ist ein Garant für hohe Auflagen.
Viel
zu lange hat die deutsche Öffentlichkeit das türkischsprachige
Medienangebot ignoriert, sich keine Gedanken darüber gemacht, aus
welchen Informationsquellen sich die türkischen Nachbarn ihr Weltbild
zusammen basteln, welchen ideologischen Einflüssen sie ausgesetzt
sind. Das ist um so erstaunlicher, als in einer multikulturellen
Gesellschaft niemand eine Insel ist, jede Veränderung im kollektiven
Selbstverständnis einer sozialen oder ethnischen Gruppe Rückwirkungen
auf das Ganze hat. Das Ergebnis der Entwicklung in den neunziger
Jahren: ParalIeIe Medienöffentlichkeiten
existieren nebeneinander, die in der Regel wenig von einander wissen.
Die
Mehrheit der Deutschtürken bezieht ihre Informationen und Unterhaltung
heute via Satellit und Kabel auf zahlreichen Kanälen direkt aus
der Türkei. Mehr als die Hälfte der Deutschtürken, so ergab eine
Untersuchung des Zentrums für Türkeistudien, schaltet nie ein deutschsprachiges
Programm ein. Die Einschaltquoten von ARD, ZDF, RTL und SAT1 liegen
in türkischen Haushalten gerade mal zwischen 1,5
und 3,5 Prozent. Die Konsequenz: Die
in Deutschland lebenden Türken konsumieren mehrheitlich Nachrichten
und Unterhaltungssendungen, die in Ankara oder Istanbul produziert
werden, auf die dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse zugeschnitten
sind, und nur bedingt die bundesrepublikanischen Verhältnisse
reflektieren.
Auch
auf dem Zeitungsmarkt hat der türkischsprachige Leser inzwischen
die Wahl. Jeder zweite türkischstämmige Leser, auch dies ein Ergebnis
einer Umfrage des Zentrums für Türkeistudien, liest ausschließlich
türkischsprachige Zeitungen. Neben der liberalen Milliyet (Auflage
in Deutschland rund 18.000) werden an bundesdeutschen Kiosken folgende
Tageszeitungen angeboten: Die ultra-nationalistische Türkiye (50.000),
die national-liberale Sabah (78.000
nach eigenen Angaben), die islamistischen Blatter Milli Gazete
(rund 7.000) und Zaman
(4.000) sowie die prokurdische Özgür Politika.
Die
einflussreiche und größte türkische Tageszeitung in Deutschland
st Hürriyet. Die Europaausgabe von Hürriyet, mit Sitz in Frankfurt,
hat eine Gesamtauflage von rund 160.000. Davon entfallen über 100.000
auf die drei bundesdeutschen Regionalausgaben (Nord, Süd, Berlin).
Für die 2,1 Millionen in Deutschland lebenden Türken st die konservativnationalistische
Hürriyet das meinungsbildende Blatt schlechthin. Sie hat einen
mit der Bild vergleichbaren Verbreitungsgrad.
Was macht den Erfolg
von Hürriyet aus? Die Popularität resultiert aus der intensiven
Berichterstattung über das Leben der türkischen Gemeinden in Deutschland.
Betriebsfeiern finden dabei ebensoviel Raum wie Berichte über neueste
Personalien und Entwicklungen in den lnteressenverbänden der Migranten.
Die gesellschaftliche Vielfalt des politischen, kulturellen und
gesellschaftlichen Lebens in Deutschland findet sich in Hürriyet
nur in sehr reduzierter Form wieder. Von Interesse sind fast ausschließlich
Themen, die Türken betreffen. Sind sie von allgemeiner Natur, werden
sie zu einem türkischen Thema gemacht. Wird etwa in Bonn über die
Kürzungen der Sozialleistungen diskutiert, vermeldet Hürriyet, das
Türken besonders davon betroffen sind. Das von Deutschland entworfene
Bild ist negativ, und das Thema von Türken in der feindlichen Fremde wird in al/en erdenklichen
Variationen ventiliert. Gleichzeitig fehlt ein kritischer Blick
auf die türkische Minderheit.
Eine
besondere Rolle nehmen bei Hürriyet, wie bei allen türkischen Zeitungen,
die Kommentatoren ein. Die Kolumnisten — in einer Ausgabe kommen
bis zu zehn zu Wort — sind Stars, die sich zum Tell täglich zu Gott
und der Welt äußern. Kolumnisten sind auf keine verbindliche Blattlinie
festgelegt.
Die
Folge: In einer Ausgabe
finden sich durchaus kontroverse Positionen zu einem Thema.
Eine
herausragende Stellung nimmt der Kolumnist Ertug Karakullukçu ein, den die Zeit nicht ganz zu Unrecht als den Karl-Eduard
von Schnitzler der türkischen Presse bezeichnete. Von Istanbul
aus, wo er als Journalist nahezu unbekannt ist, kommentiert er für
die Europaausgabe von Hürriyet die bundesdeutsche Politik aus türkisch-nationalistischer
Sicht. Gefürchtet sind seine Schmutzkampagnen gegen all jene, die
er als Feinde der Türken und der Türkei ausmacht. Über Wochen betreibt
er in Kolumnen verkleidete Rufmordkampagnen, nach dem Motto: Egal
welchen Wahrheitsgehalt meine Behauptungen haben, an den Beschuldigten
wird ein wenig Dreck haften bleiben.
Regelmäßig
in Fahrt kommt Karakullukçu, wenn deutsch oder türkischstämmige
Politiker sich kritisch zum politischen System der Türkei, zur Menschenrechtspolitik
oder zum Krieg im Südosten der Türkei äußern. ,,Feinde
der Türkei” werden an den Pranger gestellt und auch mit Privatdresse,
Telefon- und Faxnummer auf der Titelseite präsentiert. Eine kleine
und unvollständige Liste der Opfer Karakullukçus:
Ø
1995 bezeichnete Karakullukçu
die türkische Journalistin und taz-Autorin Dilek Zaptcioglu als
,,Schlange türkischer Abstammung”
und alle Türken in Deutschland, die sich Türkeikritisch äußern,
als ,,Hirnprostituierte, Scheintürken
und niedere Kreaturen”.
Ø
Im März 1996 forderte
Karakullukçu seine Leser auf, dem Monitor-Chef Klaus Bednarz wegen
,,separatistischer Propaganda
eine Lektion zu erteilen”. Das „Verbrechen”
Bednarz: Er hatte in einem Kommentar der Tagesthemen darauf
hingewiesen, daß es zwischen den Krawallen von Kurden in Deutschland
und dem ,,völkermörderischen” Krieg der türkischen Armee gegen die Kurden
einen Zusammenhang gäbe. Bednarz bekam nach den Drohungen Polizeischutz.
Ø
Auch der ZDF-Journalist
Ruprecht Eser und die ehemalige Europaabgeordnete Claudia Roth
gerieten in das Fadenkreuz des Kolumnisten, wenn sie sich in der
Einschatzung der Situation im Südosten nicht an die Staatsdoktrin
der türkischen Regierung hielten.
Ø
Gegen die “tageszeitung”,
die in den Ietzten Jahren wiederholt die tendenziöse Berichterstattung
von Hürriyet thematisierte, verschießt Karakullukçu regelmäßig
seine Giftpfeile. Einzelne Mitarbeiter der Zeitung werden als Agenten
dunkler Mächte denunziert, die der türkischen Nation schaden wollten.
Bereits 1995 bezeichnete
er die Linksliberale Zeitung als ,,Zeitung,
die von ehemaligen Kommunisten gegründet wurde, die allgemein dafür
bekannt ist, daß sie als Sprachrohr der RAF-Terroristen fungiert”.
Ø
Der Türkei-Korrespondent
der Süddeutschen Zeitung Wolfgang KoydI wurde ebenso wie die taz-Mitarbeiter
Ömer Erzeren, Jürgen Gottschlich und Eberhard Seidel-Pielen als
anti-türkischer Geheimdienstagent
,,enttarnt”. Koydls
Vergehen war ein Leitartikel über die Krise der türkischen Militärdemokratie.
Der Sündenfall der taz-Mitarbeiter war ein Kommentar Ömer Erzerens
im Herbst 1998, in dem er auf Analogien der Kosovo-Krise und des
Kurdenproblems hinwies und darauf aufmerksam machte, daß der Westen
und die NATO in beiden Fällen mit zweierlei Maß messe.
Ø
Besonders intensiv
widmet sich Karakullukçu den beiden Grünen-Politikern türkischer
Herkunft Cem Özdemir und
Ozan Ceyhun.
Ø
Cem Özdemir, seit
1994 Bundestagsabgeordneter der Grünen, ist einer der Lieblingsfeinde
Karakullukçus. Bereits 1995
beschimpfte er ihn als ,,Dolch
in unserem Rücken”. Und 1998
erhitzt sich der Hürriyet-Kolumnist an Cem Özdemirs kritischen
Anmerkungen zu Integrations- und Identitätsproblemen der Deutschland-Türken.
Karakullukçus Antwort: ,,Özdemir
hat sich unserer Meinung nach sehr stark der Gemeinschaft entfremdet,
aus der er kommt. Er arbeitet wie ein
Sonderbeauftragter für die Assimilation der türkischen
Gemeinschaft. Seine Verdrehungen werden für unsere Gemeinschaft
langsam gefährlich. Denn er informiert viele deutsche Quellen. Auf
diese Weise unterstützt er indirekt, bewusst oder unbewusst Ungerechtigkeiten,
wie zum Beispiel die Ausweisungen”.
Als Cem Özdemir im Februar 1999
in der Bundestagsdebatte auf die problematische Berichterstattung
von Sabah, Özgür Politika und Hürriyet zu den Ereignissen rund um
die Verschleppung der PKK-Führers Abdullah Öcalans aufmerksam machte,
erreichte die Hürriyet-Kampagne eine neue Qualität. In Kommentaren,
sowohl auf türkisch als auch auf deutsch, wurden Cem Özdemir und
Ozan Ceyhun als Risikofaktoren für die Integration der Türken in
Deutschland angeklagt. In dieser Kampagne wurde ein weiteres Mal
deutlich, um was es bei dem Dauerkonflikt geht — um zwei konkurrierende
Integrationsmodelle. Ceyhun und Özdemir vertreten ein Modell des
Bürgers erster Klasse und setzen sich für ein Modell der Integration
ohne Zwangsassimilation ein. Hürriyet dagegen vertritt ein Modell,
das die Installation einer türkischen Minderheit im Ausland zum
Ziel hat, das bei Bedarf per Fernbedienung aus Ankara in Stellung
gebracht werden kann. Türkischstämmige Abgeordnete, die die bundesdeutsche
Öffentlichkeit über diese problematische Politik informieren, sind
in den Augen von Hürriyet Vaterlandsverräter, die es mit allen
Mitteln zu bekämpfen gilt.
Der
Dolch in unserem Rücken!
Interview
mit
Cem Özdemir, MdB
Cem Özdemir, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, ist in den
letzten Jahren immer wieder ins Kreuzfeuer von ,,Hürriyet”, der
einflussreichsten türkischsprachigen Tageszeitung in Deutschtand,
geraten. Bereits vor Jahren wurde er von dem ,,Hürriyet”-Chefideologen
Ertug Karakuilukcu als ,,Dolch in unserem Rücken” beschimpft. Die
jüngste Kampagne erhitzte sich an Özdemirs Aussagen zu der Rolle
einiger türkischsprachiger und prokurdischer Medien in Deutschland.
In ,,Hürriyet”-Kommentaren wird ihnen regelmäßig vorgeworfen, Sie würden
die Gemeinschaft der Türken nicht kennen, die traditionellen sozialen
politischen Werte der Türken missachten. Welche ldeologie steckt
hinter Vorwürfen wie diesen?
Die nationalistische Ideologie -
eine Sprache, ein Volk und
eine Religion, besser Konfession und zwar die sunnitische.
Diese
Ideologie versucht man unter den in Deutschland lebenden Türken
durchzusetzen. Da erfüllt die Europaausgabe von “Hürriyet”, aber
auch andere türkischsprachige Zeitungen, quasi einen Auftrag, dem
ich im Weg stehe.
Inwiefern?
Ich sage, es gibt in Deutschland Menschen
aus der Türkei mit unterschiedlicher Konfession und Ethnie. Ich
will mit dieser Feststellung nicht separieren. Sondern lediglich,
daß alle als gleichberechtigte Teile des anatolischen Mosaiks anerkannt
werden.
Welche
Rückwirkung hat die polarisierende Berichterstattung von ,,Hürriyet”
auf die Deutschtürken?
Es entwickeln sich kommunikative Parallelwelten
mit separaten Tagesordnungen. Wenn ich lese, welche Persönlichkeiten
da auftauchen, welche Vereine —
die kennt niemand in Deutschland.
Wer sich ausschließlich aus der türkischsprachigen Presse über
Deutschland informiert, der bekommt ein sehr verzerrtes Deutschlandbild.
Es wird alles durch die Brille Ankaras betrachtet. Entscheidend
ist zunehmend die Frage, wie steht Person X und Partei Y zu Ankara.
Die Fragen der bundesrepublikanischen Gesellschaft rücken immer
mehr in den Hintergrund.
,,Hürriyet”
mobilisiert Emotionen und Ressentiments der Leser. Bekommen Sie
entsprechend aggressive Reaktionen?
Ich bekomme natürlich immer wieder Fanpost”
aus der nationalistischen Ecke, in der —
sagen wir — eine
deftige Sprache gesprochen wird. Die bundesdeutsche Gesellschaft
muß sich überlegen, ob sie diese Art von Journalismus, der bestehende
Brücken abreißt, möchte. Ich habe das Gefühl, daß viele denken,
es handele sich hier um eine Art Privatauseinandersetzung zwischen
mir und ,,Hürriyet” und anderen. Dos ist es aber nicht, er geht
um zwei konkurrierende Model/e. Die Bundesrepublik müßte ein vitales
Interesse haben, daß sich mein Modell durchsetzt.
Was
könnte in diesem Konflikt von deutscher Seite aus getan werden?
Es muß endlich verstanden werden, das
es sich bei Zeitungen wie ,,Hürriyet” nicht mehr um ausländische
Tageszeitungen handelt, sondern um bundesdeutsche in türkischer
Sprache. Es ist absurd, wenn im Pressespiegel des deutschen
Bundestages
zwar die ,,Washington Post” und die ,,New York
Times”
ausgewertet werden, nicht aber türkischsprachige
Zeitungen,
die in Deutschland für den deutschen Markt für
zunehmend
deutsche Staatsbürger produziert werden.
Kümmert
sich der Presserat ausreichend um die türkischsprachige Presse?
Man muI3 Zeitungen wie ,,Hürriyet” ähnliches
gilt aber auch für Zeitungen wie die islamische ,,Mili Gazete” oder
den PKK-nahen Fernsehsender “Med-TV” —
auch mal auf die Fm gen klopfen,
wenn sie in ihrer Propaganda zu weit gehen. Dos machen wir mit bundesdeutschen
Zeitungen auch. Falsche Rücksichtnahme ist da nicht angesagt. Aus
Gründen der Fairness muß man auch sagen, das siebzig, achtzig Prozent
der Mitarbeiter von “Hürriyet” um einen seriösen Journalismus bemüht
sind, das ändert allerdings nichts am Problem, das die politische
Linie aus Ankara vorgegeben wird. Grundsätzlich muß die türkische
Community in Deutschland die Diskussion führen, die Zafer Senocak
in der “taz” eröffnet hat: Er fordert dass wir uns aus der Umklammerung
Ankaras lösen, indem wir in Deutschland versuchen, unsere Interessen
unabhängig von Ankara zu formulieren.
Das
scheint allerdings ein recht mühsamer Prozeß zu sein.
Da wir für diesen Diskussionsprozess weder
die geeignete Zeitung noch das Fernsehen haben, brauchen wir dafür
dringend Foren wie die intertaz auch in anderen Zeitungen, weil
auch die bundesdeutsche Öffentlichkeit diese Diskussion nur verzerrt
mitbekommt, nur auszugsweise, wenn das deutsch-türkische Verhältnis
wieder einmal gespannt ist. Das ist zu wenig.
Mit Cem Özdemir sprach: Eberhard Seidel-Pielen
Diese
Broschüre
kann
bestellt werden bei:
Die Grünen
im
Europäischen Parlament
Ozan
Ceyhun, MdEP
Rue
Wirtz
B-1047
Brüssel
Telefon
+ 32 / 2 / 284 59 73
Impressum
1.
Auflage, März 1999
und
V.I.S.d.P.
Ozan Ceyhun, MdEP
Autor
Eberhard SeideI-Pielen
Endredaktion
Fabian
Dittrich
Konzeption
Ideenhaus newmedia